«Auch einmal schwach sein dürfen»
Im Rahmen der Aktionswoche für Kinder von suchtkranken Eltern diskutierte Jasmin vom Verein Löwenzahnkinder mit unseren Fachpersonen. Sie erzählte eindrücklich, welche Hilfe sie sich als Kind gewünscht hätte.
«Stark wie der Löwenzahn – frei wie die Pusteblume», so lautet das Motto des Vereins Löwenzahnkinder, den Jasmin zusammen mit Michelle und Sara vor einem Jahr gegründet hat. Gemeinsam wollen sie den vergessenen Kindern von suchtkranken Eltern eine Stimme geben. Im Gespräch mit den Fachpersonen der Arche Für Familien Esther Frank, Egon Garstik und Bruno Stalder hat Jasmin erzählt, wie sie ihre Kindheit erlebt hat und welche Hilfe sie sich als Kind gewünscht hätte.
Jasmin, heute 36-jährig, erlebte bis ins Kindergartenalter eine wundervolle Kindheit mit drogenfreien Eltern. Als sie 5-jährig war, begannen ihre Eltern Heroin zu konsumieren, die Sucht dominierte das Familienleben. Jasmin und ihre Schwester kamen in ein Kinderheim, wo sie Gewalt erlebten und keine Liebe erfuhren. Es war für Jasmin schwierig zu verstehen, weshalb sie von den Eltern weggenommen wurde. Im Heim sagte man ihr – gut gemeint – sie sollte doch jetzt Kind sein, die Eltern wären selbst verantwortlich. Aber Jasmin war im Kopf immer bei ihren Eltern. Sie fragte sich, wie es ihnen ging, wer auf sie schaute, wenn sie nicht mehr da war. Alle zwei Wochen durfte Jasmin heim zu ihren Eltern. Obwohl die Umstände da alles andere als kinderfreundlich waren, erzählte Jasmin im Heim nichts. Sie hatte Angst, dass sie nicht mehr nach Hause durfte. Sie war im Klinsch. Zuhause erhielt sie Liebe, im Heim hatte sie alles Essenzielle, was ein Kind brauchte. Aber die Geborgenheit und Liebe, das fehlte ihr dort.
Jasmin weiss heute, dass der grösste Teil der Kinder wegen des gleichen Schicksals im Heim gewesen ist. Aber niemand hat darüber geredet. Alle haben Angst gehabt, dann nicht mehr heim zu den Eltern zu dürfen. Ob es eine Chance gewesen wäre, wenn Jasmin sich mit anderen Kindern hätte austauschen können, möchte Egon Garstik wissen. Jasmin antwortet: «Es wäre sicher gut gewesen. Aber unser Schicksal belastete uns alle so stark, dass wir auch einfach froh waren, wenn das mal nicht das Thema war.»
Im Heim arbeitete für ein paar Jahre eine Betreuerin, mit der sich Jasmin und auch alle anderen Kinder sehr verbunden fühlten. Es war für alle sehr schlimm, als diese dann gegangen war. Nachher gab es viele Wechsel und Jasmin vertraute sich niemandem mehr an. Wieso auch, wenn diese Person dann sowieso wieder ging. Erst als junge Erwachsene fand Jasmin wieder eine Vertrauensperson. Die Betreuerin der Wohngruppe, in der sie lebte, kam jeden Tag und fragte Jasmin wie es ihr ginge. Jasmin war damals sehr aggressiv, knallte immer die Tür zu und gab wüst zurück. Sie sagte der Betreuerin, sie sollte verreisen, es ginge sie nichts an. Eines Tages kam die Betreuerin ins Zimmer, machte die Türe hinter sich zu, sass auf den Boden und begann zu weinen. Warum Jasmin immer so reagierte, wollte sie wissen. Auch Jasmin brach in Tränen aus und sagte der Betreuerin, sie wollte das ja nur wissen, um Journal zu führen. Es interessierte sie ja gar nicht, wie es ihr wirklich ginge. Jasmin vertraute der Betreuerin an, dass es noch nie wirklich um ihr Wohlbefinden gegangen war. Sondern immer nur darum, dass dies ins Journal geschrieben werden konnte.
Esther Frank fasst berührt zusammen, diese Betreuerin sei in diesem Moment sehr authentisch gewesen, hat sich als echter Mensch gezeigt und ist nicht in eine Rolle geschlüpft. In der Rolle, in der Jasmin vermutet hat, die haben das gemacht, weil das ihr Job gewesen sei und es sei nicht um sie gegangen. In diesem Moment habe Jasmin etwas gespürt. Die Betreuerin hat sagen können, es gehe ihr um Jasmin. «Ja genau, das ist es!» sagt Jasmin. «In diesem Moment bin ich im Fokus gewesen und nicht das Journal oder meine Eltern. Es kann sein, dass die Betreuerin fachlich nicht professionell reagiert hat. Aber sie hat in diesem Moment gemerkt, was bei mir angebracht gewesen ist. Das hätte ich mir als Kind gewünscht. Diese Intuition, das Herausspüren, was braucht DIESES Kind und nicht, was brauchen DIE Kinder.»
Zwei Jahre lang lebte Jasmin zwei Häuserblocks neben ihrer Mutter. Sie fühlte sich für ihre Mutter verantwortlich, wie schon ihr ganzes Leben. Sie putzte ihre Wohnung und als ihre Mutter nochmals schwanger wurde, kümmerte sie sich um das Kind als wäre es ihr eigenes. Jasmin hatte in den Jahren im Heim nie gelernt, dass sie auch mal loslassen darf. Erst durch die Zwangseinlieferung ihrer Mutter vor zwei Jahren lernte sie, sich zu distanzieren. Die Angestellten der psychiatrischen Klinik sagten, Jasmin dürfte immer anrufen und fragen wie es der Mutter ginge. Sie sagten nie, es wäre nicht ihre Verantwortung oder sie müsste auf sich schauen. Sie gaben Jasmin das Gefühl, die Kontrolle übernehmen zu dürfen und irgendwann hatte sie das Bedürfnis nicht mehr, diese Kontrolle zu haben.
Egon Garstick sagt, aus der Perspektive des Psychotherapeuten, Jasmin habe im jugendlichen Alter niemanden gehabt, der geholfen hat, einerseits die Verbindung zu spüren und haben zu dürfen zu den Eltern und andererseits aber doch auch, sich vor einer zu starken Verantwortung zu lösen. Sie wurde eigentlich daran gehindert, eine gute autonome Entwicklung durchzumachen.
Jasmin antwortet darauf: «Ich hätte mir gewünscht, dass ich von Kind an besser begleitet worden wäre. Dass ich hätte erzählen dürfen, was zuhause passierte, ohne mit der Konsequenz rechnen zu müssen, dass ich nicht mehr nach Hause durfte. Wenn ich erzählt hätte, dann hätte ich vielleicht irgendwann mal gesagt, ich will gar nicht nach Hause. Und hätte mich langsam distanzieren können.»
Gibt es noch mehr, was sie sich als Kind gewünscht hat, möchte Esther Frank zum Schluss des Gespräches wissen. Jasmin: «Ich habe mir als Kind eigentlich nur einen Moment gewünscht, zum Sein-Können. Mein Umfeld hat auch heute noch oft das Gefühl, ich müsse reden. Aber manchmal wünsche ich mir einfach jemanden, der mich in den Arm nimmt, mich nicht fragt, wie es mir geht oder was gewesen ist, wenn es eine schwierige Situation gegeben hat. Einfach mal loslassen können, einfach mal fallenlassen, diese Leichtigkeit spüren. Auch habe ich mir gewünscht, dass die Aussage ‘du bist stark’ weniger fällt. Das hört man immer wieder als Betroffene: ’Du bist stark, du schaffst das.’ Aber das weiss man. Man kämpft ja immer. Man will einmal auch schwach sein, ohne dass man dafür verurteilt wird.»
(Artikel aus unserem «arche aktuell» 2021/2)