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Betreuung und Selbstbestimmung – ein Widerspruch?

Im Kanton Zürich tritt per 1. Januar 2024 das neue Selbstbestimmungsgesetz in Kraft. Es soll Menschen mit Behinderung und besonderen Herausforderungen grössere Freiheiten bei der Wahl ihrer Wohn- und Betreuungsform geben und sie dabei unterstützen, ein selbstbestimmtes Leben als Teil der Gesellschaft zu führen. Welchen Einfluss hat das Gesetz auf die Angebote der Arche?

NL-2-23_WO_Selbstbestimmung

Das neue Gesetz wird künftig Einfluss auf die Arche-Wohnformen «Betreutes Wohnen», und «Integrierendes Wohnen» haben; unabhängig davon wurde bereits im vergangenen Jahr durch die Geschäftsleitung mit «Betreuungsverständnis» ein Fokus bestimmt, der seither in einer Arbeitsgruppe thematisiert wird. Das Team setzt sich aus Personen der Bereichsleitung sowie aus den drei Wohnhäusern zusammen. Sehr schnell sei klar geworden, dass die Begrifflichkeiten «Betreuungsverständnis und Selbstbestimmung» untrennbar miteinander verbunden sind, erklärt Sophie Fabian, Sozialarbeiterin im Wohnhaus Hohlstrasse. «Dass wir die Selbstbestimmung ins Zentrum unserer Workshops gerückt haben, war nicht bewusst im Hinblick auf das neue Gesetz. Sie hat nicht nur darauf einen grossen Einfluss, sondern auch auf den individuellen Betreuungsbedarf (IBB), der für die Finanzierung des Kantons entscheidend ist.»  

Um einen fachlichen Input von aussen zu erhalten, wurde die Zusammenarbeit mit Dr. Sylvie Johner-Kobi, Professorin am Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe der ZHAW und Martin Haug, Stiftungsrat von Pro Mente Sana gesucht. Sie forschen und arbeiten zu Selbstbestimmung. Mit dieser Kooperation wurden einerseits die Bewohner:innen der Wohnhäuser, die sich an diesem Prozess beteiligen wollten, ins Boot geholt und andererseits der Bezug zum kommenden Gesetz vertieft hergestellt. In dieser Zusammensetzung sind bisher zwei durch die ZHAW begleitete Workshops durchgeführt worden.  «Der Prozess ist in vollem Gange, aber es ist noch ein langer Weg», sagt Sophie Fabian. 

Selbsteinschätzung und Aussensicht nicht immer deckungsgleich 
Bis jetzt sind diverse Themen evaluiert worden, die überarbeitet werden. Eines davon ist der Aufnahmeprozess, in den sowohl die Betreuer:innen als auch die Bewohner:innen involviert sind. Sozialarbeiterin Fabian erklärt: «Wenn eine neue Person in eine der Wohngemeinschaften ziehen möchte, dürfen die bestehenden Bewohner:innen mitreden und mitentscheiden». Aber der Grad dieser Mitbestimmung müsse klar definiert werden – jeder habe seine Meinung und entscheide aus anderen Gesichtspunkten heraus.  

Als zusätzliches Instrument zu den laufenden Gesprächen und Workshops wurde in den Wohnhäusern ein Fragebogen verteilt, den die Bewohner:innen anonym im Team ausfüllen konnten. Ziel war es, herauszufinden, was Selbstbestimmung für jede:n einzelne:n bedeutet, grundsätzlich und spezifisch zu Themen wie Finanzen, Gesundheit, Alltag und Betreuung. Gerade die Fragen zur gewünschten oder nötigen Betreuung rücken ein weiteres, wichtiges Thema im Rahmen der Selbstbestimmung in den Fokus. Hier treten dann Widersprüche auf, wenn die Selbsteinschätzung des:der Klient:in sich nicht mit denen von Arzt oder Ärztin oder Betreuungsteam deckt. Diese Auseinandersetzungen und Diskussionen kämen öfter vor, wie Sophie Fabian erzählt. «Dann geht es um ein Aushandeln, um das Finden eines Kompromisses; in der Arche geht vieles, das vielleicht in anderen Institutionen nicht möglich wäre.» 

Mit dem Eintritt gelten auch gewisse Regeln 
Im Begriff «Betreutes Wohnen» ist bereits in der Definition ein gewisses Betreuungslevel enthalten. Wer dies ablehne, sei in der Arche falsch, so Sophie Fabian: «Beim Eintritt in eines unserer Wohnhäuser unterzeichnen die Klient:innen unsere Regeln, an die müssen sie sich halten.» Zentral sei dabei auch die Abgabe von Medikamenten: «Das Arche-Team gibt in vielen Fällen die Medikamente ab, manche Bewohner:innen können sie nicht selbst verwalten, das ist ein grosser Einschnitt in die Selbstbestimmung». Im Umkehrschluss sei aber die Arche für die Sicherheit aller Personen verantwortlich. Daraus würden sich immer wieder Widersprüche für den Einzelnen ergeben. Die Aufgabe der Arche sei es nun, all ihre Vorschriften zu überprüfen und zu evaluieren, welche davon flexibler ausgelegt werden können, um der Selbstbestimmung mehr Rechnung zu tragen und an welchen Bestimmungen die Arche festhalten müsse. Nebst der Medikamentenverwaltung ist die Verfügung über das eigene Geld ein wichtiger Punkt, der diskutiert wird. Eine individuelle Anpassung während des Aufenthalts sei jederzeit möglich, wenn sich die Gegebenheiten eines Bewohnenden ändern würden, betont Sophie Fabian. 

Die grösste Änderung betrifft die Finanzierung 
Grossen Einfluss hat das neue Gesetz auf das bisherige Finanzierungsmodell. Haben bisher die Institutionen vom Kanton Geld erhalten, haben Menschen mit Behinderung künftig einen grösseren Einfluss darauf, wohin die Gelder fliessen. Ab 2024 erhalten Betroffene vom Kantonalen Sozialamt eine Art Gutschein, der die Anzahl Stunden festhält, die für Unterstützung eingesetzt werden kann. In seltenen Fällen - falls die Person bereits über einen Assistenzbeitrag der IV verfügt - wird Menschen mit Behinderung auch direkt ein Budget ausbezahlt, das für Betreuung durch Assistenzpersonen eingesetzt werden kann. Institutionen erhalten somit ab 2024 nur noch dann vom Kanton Geld, wenn Klient:innen ihren Voucher in der jeweiligen Institution einsetzen.  

Das bedeutet für die Anbieter, dass die Angebote offensiver kommuniziert werden müssen, um in den verschiedenen Ansprechgruppen bekannter zu werden. Davon, dass die Arche mit ihren Wohnformen bereits gut positioniert ist und für die diversen Ansprüche mit einer breiten Palette an Leistungen aufwartet, ist die Fachfrau überzeugt. Abschliessend:  «Es ist wichtig, dass das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft tritt. Natürlich sind wir noch weit davon entfernt, dass unsere Bewohnenden völlig selbstbestimmt hier wohnen können; das wird niemals vollumfänglich möglich sein – da hilft auch kein Gesetz – aber im Rahmen arbeiten wir daran.» 

Im Verlaufe des Prozesses sollen alle Bereiche beleuchtet werden – auch wenn das Konzept der Arche bereits gut dasteht, es muss laufend überarbeitet werden nach Verbesserungspotenzial im Sinne der Selbstbestimmung.