Bindung – Trauma – Sucht
Rund 100 Zuhörer:innen strömten Ende Mai ins Arche Brockenhaus, um den mit-reissenden Worten von Prof.Dr. med. Karl Heinz Brisch zu folgen. Was, wenn Eltern keine verlässliche Beziehung mit ihrem Kind haben können? Welche Auswirkungen hat dies auf die Entwicklung des Kindes? Wie können Eltern und Kinder unterstützt werden? Eine kleine Zusammenfassung.
Schon lange war sie angekündigt und musste wegen Corona ein halbes Jahr verschoben werden. Ende Mai fand sie dann endlich statt: die Fachveranstaltung mit Prof. Dr. med. Karl Heinz Brisch zum Thema «Bindung – Trauma – Sucht». Das Interesse war sehr gross. Schliesslich ist Prof. Brisch eine bekannte Persönlichkeit. Er ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychiatrie und Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Neurologie; Psychoanalytiker für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Psychotherapie von bindungstraumatisierten Menschen in allen Altersgruppen. Rund 100 Zuhörer:innen strömten in unser Arche Brockenhaus, um den mitreissenden Worten von Prof. Brisch zu folgen. Auch ich wurde in den Bann seiner Rhetorik gezogen. Und trotzdem ich Nicht-Fachfrau im Bereich Psychologie oder Sozialer Arbeit bin, beeindruckten mich die von ihm geschilderten Zusammenhänge.
Die emotionale Bindung sichert das Überleben
Ich habe erfahren, dass Babys «verhungern» können, wenn ihr Grundbedürfnis nach Bindung oder Beziehung nicht gestillt wird. Die emotionale Bindung sichert das Überleben, es ist gleich grundlegend wie die Luft zum Atmen oder die Ernährung. Dabei spielt es keine Rolle, wer die Bindungsperson ist. Eine dauerhafte Verlässlichkeit scheint hierbei das Ausschlaggebende zu sein. Das Bedürfnis nach Bindung wird bei einem Baby oder Kleinkind beispielsweise dann besonders gut sichtbar, wenn es Angst hat oder gestresst ist, weil es von seiner Bindungsperson getrennt ist. In solchen Stress-Situationen schüttet das Kind das Hormon Cortisol aus. Es wurde nachgewiesen, dass der Cortisolspiegel wieder gesenkt wird, wenn die Bindungsperson das verängstigte Kind in die Arme nimmt. Mit, unter anderen, solchen bedürfnisdeckenden Bindungs-Erfahrungen lernt das Kind mit Stress- und Angstsituationen umzugehen und wird resilienter. Dies bedeutet, dass das Stress-Toleranz-Fenster grösser wird. Es braucht nun also mehr, bis der Körper Cortisol ausschüttet. Dieser Lerneffekt hört auch nie auf. Auch bei einer erwachsenen Person kann aufgrund verlässlicher Bindung die Resilienz gesteigert werden.
Eine auf Bindung basierte Therapie kann auch im Erwachsenenalter der Sucht entgegenwirken
Diese Aussage fand ich deshalb sehr spannend, weil Bindungsstörung ein Grund für eine Suchterkrankung sein kann. Ein Mensch, der keine verlässliche Bindung erlebt, hat ein schmaleres Stress-Toleranz-Fenster. Weil, wie ich jetzt weiss, der Cortisolspiegel damit öfter hoch ist, erlebt er viel angespannte Zeit. Suchtmittel können dann Entspannung bringen, den Cortisolspiegel beruhigen. Suchtmittel können den fehlenden Kontakt mit einer Bindungsperson ersetzen. Mit einer auf Bindung basierten Therapie ist es aber auch im Erwachsenenalter möglich, das Stress-Toleranz-Fenster zu vergrössern und damit der Sucht entgegenzuwirken.
Eltern stützen, damit sie eine verlässliche Bindungsperson sein können
Aber wieder zurück zu den Kindern. Und zwar zu diesen Kindern, deren Eltern keine verlässliche Bindungsperson sein können. Weil Bindung, wie ich nun weiss, zusammen mit Ernährung und Luft eine Überlebenstriangel bildet, muss gehandelt werden. Können die Eltern gestützt werden, damit sie ihre so wichtige Rolle einnehmen können? Sind sie selbst von einer Bindungsstörung belastet? Oder traumatisiert? Haben sie eine Suchterkrankung? Psychosoziale Probleme? Allein der Aufbau einer therapeutischen Bindung zwischen der:m Psycholog:in oder Sozialarbeiter:in mit den Eltern kann schon Wirkung zeigen.
«Eine verlässliche Person, auch ausserhalb der Öffnungszeiten»
Aber nicht immer ist es möglich, diese Eltern genügend zu stützen. In solchen Fällen wird eine Fremdplatzierung in Betracht gezogen. Jemand, die viel Zeit ihrer Kindheit in Heimen verbracht hat, ist Jasmin vom Verein Löwenzahnkinder. Sie sass an der am Vortrag anschliessenden Plenumsdiskussion auf der Bühne und stand Red und Antwort. Was sie denn den Fachleuten auf den Weg geben wolle, was sie sich anders gewünscht hätte, wollte jemand aus dem Publikum wissen. Jasmin antwortete, sie hätte sich eine Person gewünscht, auf die sie sich hätte verlassen können. Auch ausserhalb der Öffnungszeiten.