Marcel ist «IM-Klient» - das heisst, er absolviert Massnahmen der Invalidenversicherung zur beruflichen Integration. Hinter diesen eher trocken anmutenden Begrifflichkeiten steckt ein spannender Mensch, eine lange Leidensgeschichte, viele interessante Begegnungen, viel Arbeit und ein grosser Traum.
Der Shutdown vor zwei Jahren war für Marcel ein Schlüsselerlebnis – die Situation zog dem berufserfahrenen Projektleiter eines Möbelunternehmens einfach den Teppich unter den Füssen weg. Von einem Tag auf den andern im Homeoffice, vor sich auf dem Tisch ein Millionenprojekt.
In Kombination mit seiner bereits bestehenden Krankheit, einer Angst- und Panikstörung, einfach zu viel. Er kämpfte sieben Wochen mit sich und der Situation, bevor er den Versuch wagte, in sein Büro zu gehen, wo er seinem CEO begegnete. Auf dessen Bemerkung, dass er schlecht aussehe und die Frage, wie es ihm gehe, brach Marcel zusammen und fand sich im Sanatorium Kilchberg wieder. Nach einer mehrwöchigen Stabilisierungsphase und einem Klinikwechsel wurde ihm klar, dass er sich nach vierzig Jahren im Verkauf beruflich radikal verändern wollte. Nach einem Zusammentreffen mit einer Peer-Mitarbeiterin (Personen, die psychische Erkrankung und Gesundung erlebt und in einer Weiterbildung reflektiert haben; ihre Erfahrungen teilen sie mit anderen Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen), war für ihn klar, welchen Weg er einschlagen wollte. Er war auf der Suche nach einem neuen Sinn nach all den Jahren im «Hamsterrad», wie er es bezeichnet. Es folgte die Kontaktaufnahme mit der Invalidenversicherung (IV) hinsichtlich Kostenübernahme, respektive Kostengutsprache. Die IV liess Marcel die freie Wahl, wohin er sich für die beruflichen Integrationsmassnahmen wenden wollte. Und so stellte er sich in der Arche Therapie Bülach vor, wo er sich sofort willkommen und wohl fühlte. Die Kombination aus handwerklichen Tätigkeiten, Gartenarbeiten und schöner Umgebung überzeugte ihn vom ersten Moment an.
«Ich stellte fest, dass ich einen guten Zugang zu Menschen in schwierigen Situationen habe.»
Die neue Situation war für alle Beteiligten eine Herausforderung. Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase waren alle anfänglichen Hürden genommen, die Jobcoaches und Agogen fanden schnell die «richtige» Sprache für Marcel. Aus seinem herausfordernden Beruf war er gewohnt, Aufgaben rasch und präzise zu erfassen und umzusetzen – er brauchte keine Schritt-für-Schritt-Erklärungen und Rundum-Betreuung bei der Erledigung der Arbeiten. Dieses Vorgehen trifft aber nicht auf alle Klient:innen zu, jede:r braucht seinem:ihrem Verhältnis entsprechend eine individuelle Ansprache und einen Umgang, der sie:ihn fördert und nicht überfordert. Marcel betont ausdrücklich, wie schnell sich alles eingespielt hatte und wie wohl er sich sofort gefühlt hat. Seine Aufgaben waren ziemlich vielseitig, so startete er im Garten, mit «Gartengeschichten», wie er sagt. Danach kümmerte er sich um die Tiere und schliesslich wurde vom Team bemerkt, dass er gut kochte. In der Folge verbrachte er viel Zeit in der Küche und als jemand ausfiel, übernahm er für eine ganze Woche das Kochen und bereitete täglich Mahlzeiten für 20 Personen zu, mit Unterstützung eines ständigen Bewohners.
Diese Zusammenarbeit zwischen externen und «internen» Klient:innen empfand Marcel als sehr wertvoll. Derieser Austausch habe ihm gezeigt, dass er einen guten Zugang zu den Menschen fände, die in schwierigen Lebenssituationen stecken. Es sei ihm klar geworden, dass sein Berufswunsch «Peer-Mitarbeiter» ihm wirklich läge und es das Richtige für ihn sei, wie er bestimmt anfügt. Ein Entscheid, den mittlerweile auch die IV mitträgt. Als optimale Entwicklung bezeichnet er das Hinzukommen von Alexandra Spiess, Jobcoach und Claudio Kamm, Arbeitsagoge, zum Team in Bülach. Die Zusammenarbeit mit ihnen lobt Marcel denn auch in den höchsten Tönen, auch wenn er da schon glasklare Vorstellungen gehabt habe, wohin seine berufliche Reise ihn führen würde. Die Coaches hätten ihn auf diesem Weg immer bestärkt.
Ein wichtiger Schritt in Richtung Peer
Nach Ablauf des Belastbarkeits- und Aufbautrainings hat Marcel vor Kurzem die Arche Therapie Bülach verlassen. Ein weiterer Schritt auf dem Weg zur beruflichen Integration hat mit dem «Arbeitsversuch» gestartet. Seine Arbeitstage verbringt er nun für die nächsten sechs Monate in einer anderen Institution. Begleitend zu dieser Massnahme trifft er sich einmal wöchentlich in der Arche Bülach mit Alexandra Spiess, seinem Jobcoach. Es wird besprochen, wie es ihm geht, wie er die neue Herausforderung meistert und wie es nach den sechs Monaten weitergehen soll – Marcel braucht eine feste Anstellung, um wieder unabhängig sein Leben bewältigen zu können.
Die IV-Massnahme wird nach Ablauf des Arbeitsversuchs auslaufen. Die Ausbildung zum Peer beinhaltet nebst der praktischen Arbeit auch Theorielektionen, die vom Verein Ex-In begleitet werden. Allerdings seien alle Ausbildungsplätze vergeben und ausgebucht, wie Marcel sagt. «Über Ex-In Deutschland hat es nun aber geklappt, Ende April fange ich meine Ausbildung in Heidelberg an, das ist sehr cool!». Er sagt aber auch, dass er durch das Coaching bei Alexandra nicht nur eine feste Anstellung als Peer finden möchte, sondern vielleicht auch herausfinden, ob es noch weitere Möglichkeiten gäbe in einem anderen Bereich. Er stellt sich vor, dass er verschiedene Pensen in diversen Bereichen ausüben könnte, das wisse er jetzt noch nicht, das ergebe sich alles, vielleicht sogar in der Stiftung, wo er jetzt den Arbeitsversuch absolviert. Der Wirkungsbereich eines Peers ist vielseitig: von Akutbegleitungen in Kliniken über Referate und Öffentlichkeitsarbeit. Aufgaben, die Marcel durchaus liegen. Im Verlaufe des Gesprächs erzählt Marcel von seinem Mitwirken in einem SRF-Dokfilm im Jahre 2018, wo er als Patient mit einer Angst- und Panikstörung porträtiert wurde. Eine lange Leidensgeschichte – umso eindrücklicher, dass er nun seinen Weg zurück in ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben in einem neuen Beruf gefunden hat.
Ein Blick zurück und einer voraus
Rückblickend auf seine neun Monate in der Arche Therapie Bülach betont Marcel die guten Erfahrungen, die er machen durfte. Die erhaltene Betreuung sei wertvoll gewesen, die Offenheit der Menschen, vom Betriebsleiter, über die Agogen und Coaches und den anderen Klient:innen. So könnte er sich auch vorstellen, in irgendeiner Form in der Ache tätig zu werden. Ein schöner Ort mit vielseitigen Möglichkeiten. Er habe zudem handwerklich viel profitieren können. Auf die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen würde wann immer möglich eingegangen. «Klar, nach drei Wochen Hühnermist wegkarren hatte ich etwas genug, aber auch das war eine gute Erfahrung», schmunzelt er.
Marcel steckt voller Projekte und Pläne. Nicht nur den beruflichen Weg verfolgt er fokussiert und klar, er schreibt nebenbei auch noch ein Buch über Angst- und Panikstörungen, weil er findet, es gebe extrem viel Fachliteratur auf dem Markt, aber kein Buch aus der Sicht eines Betroffenen. Ein einziges Werk habe er gefunden, aber dieses vermochte ihn nicht zu überzeugen. Er rechnet damit, in einem Jahr so weit zu sein, dass es verlegt werden könnte. Marcel sagt, dass das Schreiben manchmal schwierig sei, weil vieles wieder hochkomme und er dann wieder eine Pause einlegen müsse. Auf das Buch darf man gespannt sein, weil es einen tiefen Einblick in ein Leiden bieten wird, die nach wie vor mit vielen Vorurteilen zu kämpfen hat.
Alexandra Spiess erklärt ihre Arbeit am Beispiel des IM-Klienten Marcel. Die IV spricht die Kosten für berufliche Integrationsmassnahmen, damit die Person möglichst zurück in die Berufswelt kann. Im Fall von Marcel waren dies ein dreimonatiges Belastbarkeitstraining, um ihm wieder eine Tagesstruktur zu geben und vorhandene Ängste abzubauen. Danach folgten drei Monate Aufbautraining. Die Aufgabe des Jobcoaches ist es, begleitend vorhandene Ressourcen zu aktivieren. Bei Bedarf integriert ist eine Laufbahnberatung im klassischen Sinn, um herauszufinden, wohin der neue berufliche Weg führen könnte. Ein Weg der Veränderung – der alte war der „krankmachende“. Bei Marcel war es so, dass dieser bereits klare Vorstellungen hatte, wohin er wollte. Da steht nun die Aufgabe im Vordergrund, ihn zu unterstützen bei Recherchen, Abklärungen und bei der Stellensuche.
Dieses aktuelle Coaching dauert weitere sechs Monate, begleitend zum externen Arbeitsversuch. Danach sollte der:die Klient:in wieder selbständig arbeiten können – dann endet auch die Kostengutsprache der IV.