Marina Jurisic ist Acceuillante im begleiteten Begegnungsort Arche Die Oase. Welche freudigen Momente erlebt sie und wie kann die Oase Bezugspersonen von kleinen Kindern unterstützen? Wir haben Marina zum Interview getroffen. Sie erzählt, wie sie ihre Aufgabe erlebt und welche Situationen herausfordernd sind.
Marina, stell dich doch kurz vor. Was sollte man über dich wissen?
Ich bin Psychologiestudentin im Master und seit 2022 als Acceuillante in der Oase tätig. Ich bin über einen Vortrag eines freiwilligen Mitarbeiters der Oase auf das Angebot aufmerksam geworden. Ich erinnere mich, dass das für mich eine enorme Horizonterweiterung war. Damals habe ich realisiert, dass auch Kinder zwischen 0 und 4 Jahren kommunizieren: mit Gestik, mit Mimik, mit Weinen, mit Schreien, mit Sprache … Ich war so begeistert zu hören, dass es einen Ort gibt, wo den Ausdrucksweisen von Kindern in diesem Alter eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird und man versucht, diesbezüglich mit den Kindern und Eltern zu interagieren. Erst durch diesen Vortrag habe ich gelernt, dass man für die Ausdrucksweisen eines Kleinkindes Worte finden kann. Dadurch, dass man versucht zu übersetzen, was ein Kind ausdrücken möchte, kann man dazu beitragen, die Kommunikation zwischen dem Kind und seiner Bezugsperson zu verbessern.
Wie müssen wir uns die Oase vorstellen?
Die Oase ist ein niederschwelliger Begegnungsort für Kinder von 0 bis 4 Jahren und ihre Bezugspersonen, der sich in den Räumlichkeiten der Arche im Zeughausareal der Stadt Zürich befindet. Der Ort bietet Kindern die Möglichkeit, mit anderen Kindern und Erwachsenen in Kontakt zu kommen und dabei soziale Interaktionen auszuprobieren. Es ist ein Übergangsraum zwischen Familie und Fremden, zwischen etwas Bekanntem und etwas Unbekannten. Den Erwachsenen bietet die Oase die Chance, Fragen zu stellen und Schwierigkeiten und Gedanken aus dem Alltag mit anderen Eltern und Erwachsenen zu teilen. Wenn Eltern ein erstes Kind bekommen, ist das ein sehr vulnerabler Moment für sie. Ihre neue Rolle in der Gesellschaft zu finden, ist nicht einfach. Darum ist es sehr wertvoll, dass die Oase ein niederschwelliger Ort ist, an dem sich Eltern austauschen können – untereinander, aber auch mit Fachpersonen.
Das Wort Acceuillant:e kommt aus dem Französischen und bedeutet wörtlich übersetzt «Empfangende». Was ist deine Aufgabe als Acceuillante?
Als Acceuillante gestalte ich diese Situationen aktiv mit, indem ich mich als Interaktionsperson für Spiele und Gespräche zur Verfügung stelle. Meine Aufgabe ist es auch, dem Kind besondere Beachtung und Aufmerksamkeit zu schenken. Ich versuche Worte zu finden für das, was das Kind kommunizieren möchte, die Bezugspersonen aber manchmal nicht verstehen.
Das Konzept von Arche Die Oase lehnt sich an das Konzept der «Maison Verte» der französischen Kinderärztin und Psychoanalytikerin Françoise Dolto an. Es gelten deshalb auch bestimmte Regeln, die es in der Oase zu beachten gibt. Was kannst du uns darüber erzählen?
Unsere Regeln sind wie Gesetzmässigkeiten, wie sie auch in einer Gesellschaft bestehen. Es gibt vier wichtige Punkte, die es zu beachten gibt: Wenn ein Kind mit seiner Bezugsperson zu uns kommt, dann fragen wir als erstes nach dem Vornamen des Kindes. Wir schreiben seinen Vornamen auf eine Tafel und notieren, mit wem es gekommen ist. Da steht dann z.B. «Max mit Mama» oder «Max mit Papa». Wir zeigen damit, wie stark es um das Kind als eigenständige Person geht, die auch als solche adressiert wird. Ich stelle auch mich selbst vor, so dass eine Beziehung entstehen kann. Eine weitere wichtige Regel ist, dass sich die Bezugsperson während des Oase-Besuchs nicht vom Kind entfernt resp. im Raum bleibt. Man gibt sein Kind in der Oase also nicht zum Hüten ab, sondern verbringt hier Zeit mit ihm. Die dritte Regel ist, dass in unserem grossen, schönen Raum am Boden eine rote Linie aufgezeichnet ist. Diese rote Linie trennt den Raum in einen eher aktiven, mobilen Teil, in dem Kinder herumrennen und auch mit dem Bobbycar fahren können, sowie in einen eher ruhigeren Teil, in dem sich auch ganz kleine Kinder aufhalten und z.B. auf einer Decke auf dem Boden liegen. Die Linie stellt sicher, dass die Babys und kleineren Kinder einen sicheren Raum erhalten. Die Regel besteht darin, dass diese rote Linie nicht mit dem Bobbycar überschritten werden darf. An dieser roten Linie manifestiert sich, ob Regeln akzeptiert werden können oder nicht. Die vierte Regel schliesslich besagt, dass das Kind eine Schürze anziehen muss, wenn es mit Wasser spielt.
Wenn Familien zum ersten Mal in die Oase kommen, machen wir sie mit diesen vier Regeln vertraut. Dadurch eröffnet sich ein interessanter Beobachtungsraum, weil man miterlebt, wie Eltern ihren Kindern diese Regeln vermitteln und ob und wie sie dafür sorgen, dass sie eingehalten werden. Wir weisen die Bezugspersonen ausserdem darauf hin, dass sie die Möglichkeit haben, nach dem Besuch einen Betrag nach ihrem Ermessen in ein Kässeli zu geben.
Gibt es ein Erlebnis, das dich besonders berührt hat?
Ich erinnere mich an eine Situation, in der ein etwa zweieinhalbjähriges Mädchen einem anderen Kind das Spielzeug aus der Hand gerissen hat, worauf dieses zweite Kind heftig zu weinen anfing. Ich bin dann zu dem Mädchen gegangen, das das Spielzeug weggenommen hatte, habe es mit Namen angesprochen und zu ihm gesagt: «Das andere Kind war gerade am Spielen. Lass uns ihm das Spielzeug zurückgeben und gemeinsam etwas anderes zum Spielen suchen.» Das Mädchen hat mich daraufhin mit grossen Augen angeschaut und ist freudig auf mich zugekommen, weil ich ihm angeboten habe, gemeinsam zu spielen. Wir haben ein Büchlein ausgewählt, worauf es sich voller Vertrauen und ohne Berührungsängste auf meinen Schoss gesetzt hat. Da habe ich verstanden, dass ich offenbar wahrgenommen habe, dass die Aggression des Mädchens eine Ausdrucksweise dafür war, dass es sich mehr Aufmerksamkeit wünschte.
Wieso war dieser Moment so berührend für dich?
Diese Situation hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, dass man Kinder nicht einfach aus einer Konfliktsituation herausnimmt. Vielmehr ist es für Bezugspersonen wichtig, zum Kind hinzugehen, präsent zu sein, mit ihm in Beziehung zu treten und gemeinsam zu schauen, was eigentlich passiert ist. Für mich war überraschend, wie willkommen es für das Mädchen war, dass ich die Situation angesprochen habe. Auch wenn dieses zweieinhalbjährige Kind nicht mit Worten ausdrucken konnte, was es wollte, hat es mein Angebot sehr wohl verstanden. Das Wertvolle ist, dass die Oase den Raum bietet, solche Situationen nachträglich mit den Eltern zu besprechen.
Gibt es für dich als Accueillante auch schwierige oder herausfordernde Momente?
Ich habe erwähnt, dass die Oase ein Ort der Begegnung ist. Es ist auch ein Ort, der Brücken bauen kann: zwischen Kindern und anderen Erwachsenen, anderen Kindern oder Acceuillant:es. Die Oase ist somit auch ein Metabild für die Gesellschaft. Wie in der Gesellschaft gibt es aber auch in der Oase Situationen, in denen das Brückenschlagen nicht so leicht gelingt. Ich habe beispielsweise erlebt, dass eine Bezugsperson bei ihrer Ankunft ihr Kind mitten in den Raum gesetzt hat und sich selbst an den Rand setzte. Das Kind war zu klein und zu wenig mobil, um sich selbst ein Spielzeug zu holen. Es fühlte sich offensichtlich verloren und überfordert. Solche Momente auszuhalten und zu beobachten, dass die Bezugsperson ihr Kind mit dieser Situation «allein» lässt, fand ich schwierig und herausfordernd. Ich versuchte zu verstehen, weshalb sich die Bezugsperson so verhielt und mich gleichzeitig aus dieser Beklemmung zu lösen und dem Kind ein Spielangebot zu machen.
Inwiefern kann die Oase in solchen Momenten Unterstützung bieten?
Im Austausch mit Bezugspersonen stellt sich immer wieder heraus, dass es in ihrem Alltag Situationen gibt, die sie sehr belasten. Das kann eine Erklärung dafür sein, warum Eltern in diesen Momenten nicht feinfühlig auf ihr Kind reagieren können. Die Oase ist in solchen Situationen besonders wertvoll, weil wir als Acceuillant:es eine Annäherung zwischen dem Kind und seiner Bezugsperson begleiten können. Besonders herausfordernd sind auch erste Begegnungen. Es kann vorkommen, dass eine Irritation daraus entsteht, dass es in der Oase kein «Programm» gibt. Das bedeutet aber, dass wir versuchen, aus der Begegnung selbst etwas entstehen zu lassen. Das ist nicht immer einfach und kann sowohl für Bezugspersonen als auch für uns Acceuillant:es ungewohnt sein. Auch in dieser ungewohnten Situation versuchen wir, Brücken zu schlagen und die anwesenden Personen in ein Gespräch zu integrieren. Ich erlebe diesen «leeren Raum» deshalb auch für mich selbst als wertvoll.
Was nimmst du für dich persönlich aus deiner Tätigkeit als Acceuillante mit?
Mich erfreut und überrascht es immer wieder aufs Neue, mit diesen kleinen Wesen zusammenarbeiten zu dürfen. Sie können auf ihre Art so viel kommunizieren. Es ist für mich spannend herauszufinden, wie sie etwas in einem Spiel ausdrücken und zu beobachten, wie sich die Kinder entwickeln. Ich schätze die Oase deshalb sehr. Es ist etwas sehr Seltenes und Spezielles, dass es einen Ort gibt, der per se kein Programm anbietet, sondern einfach die Möglichkeit eröffnet, sich zu begegnen.
Möchtest du zum Schluss noch etwas anderes erwähnen?
Die Oase – mitten in der Stadt Zürich und im Zeughaus-Areal gelegen – ist zwar ein niederschwelliges Angebot, das man anonym besuchen kann. Ausser dem Vornamen des Kindes erfragen wir ja keine Daten. Dennoch muss uns bewusst sein, dass es viele Familien gibt – insbesondere solche mit Migrationshintergrund - die nicht viele Berührungspunkte mit Institutionen oder mit einer anderen Gesellschaft bzw. insbesondere der Schweizer Gesellschaft haben. Es kann für sie eine grosse Hemmschwelle sein, mit Menschen in Beziehung zu treten, die nicht zu ihrem bekannten Umfeld von Familie oder Nachbarn gehören. Die Oase kann deshalb für sie ein wichtiger Ort sein, um sich gesellschaftlich zu öffnen und Vertrauen zu schaffen, auch zu Institutionen. Das kann Kindern die Chance eröffnen, sich später freier und offener zu bewegen. Und das wiederum kann dazu führen, dass sich den Kindern bessere Bildungschancen eröffnen, wenn sie in diesem Zusammenhang an einem Ort wie der Oase positive Erfahrungen machen.
Vielen Dank für das Gespräch, Marina! Wir wünschen dir weiterhin viel Freude bei deiner Aufgabe als Acceuillante.