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Sainte-Croix, die Metropole der Musikspieldosen im Waadtländer Jura

Geschrieben von Thomas Schärer | 26.09.2024

Wir widmen uns einem schweizerischen Präzisionshandwerk mit Ursprung im 19. Jahrhundert, das wider allen Umständen im Wandel der Zeit bis heute überlebt hat: Die mechanische Musikspieldose.

In der Blütezeit gab es 40 Hersteller allein in Sainte-Croix, einer kleinen Gemeinde im Waadtländer Jura. Heute hat eine einzige Firma, Reuge, die weltweite Monopole in der Herstellung von Spieldosen im Luxussegment. Bei einem der erfolgreichsten Exporte der Schweizer Industrie denkt man, neben Schokolade und Käse, nicht zuerst an Musikspieldosen, sondern vor allem an eines: Uhren.

Im Schweizer Jura, nahe der französischen Grenze, wuchsen im 19. Jahrhundert Fabriken wie Pilze aus dem Boden, und die in aufwendigem Präzisionshandwerk hergestellten Uhren wurden in die ganze Welt verkauft. Hochburgen waren unter anderem La Chaux-de-Fonds, Biel, Le Locle und das Vallée de Joux.

Sogar die Erfindung der Kuckucksuhr wird oft fälschlicherweise der Schweiz zugesprochen. Schuld daran ist eine Szene aus dem Filmklassiker «Der dritte Mann» (1949), in der Regie- und Schauspiellegende Orson Welles dies auf dem Riesenrad im Wiener Prater jemandem erklärt. Die Kuckucksuhr stammt aber in Tat und Wahrheit aus dem Schwarzwald. Eine Schweizer Erfindung ist hingegen die Musikspieldose. Sie stammt aus dem Umfeld der Uhrenindustrie. Ihre Glanzzeit dauerte von 1875 bis 1896.

Für unsere kleine nostalgische Exkursion reisen wir zusammen mit Professor Archibald zurück in das vorletzte Jahrhundert.

Sainte-Croix ist eine Gemeinde im malerischen Waadtländer Jura mit knapp über 5'000 Einwohnern, gelegen zwischen der französischen Grenze und Yverdon auf der Sonnenterasse «Le Balcon du Jura Vaudois», 1'086 Meter über dem Meer, mit angrenzendem kleinem Skigebiet.

"Bienvenue au pays des rêves mécaniques" (Willkommen im Land der mechanischen Träume) steht auf einer Tafel, die jeden Besucher von Sainte-Croix willkommen heisst. Eine Gegend voller Geheimnisse. Neblige Felder, Kuhweiden und Moorgebiete vermitteln eine mystische Stimmung. Diese ländlichen Idylle wählten manche Aussteiger, Absinthtrinker und Anarchisten als ihren Rückzugsort.

Doch wird hier auch gearbeitet. In den lichtdurchfluteten Hallen der Uhren- und Spieldosenindustrie arbeiteten im 19. Jahrhundert zahlreiche Beschäftigte, und die Produkte wurden in die ganze Welt verschickt. Hohe Fensterfassaden sorgten in der Zeit vor der Elektrizität für genug Licht, um das manuelle Präzisionshandwerk auszuführen.

Nicht nur Musikspieldosen wurden hier hergestellt, sondern auch andere kuriose Dinge: Zwitschernde Singvogelkäfige mit präparierten oder künstlich hergestellten Vögeln, angetrieben von einem starken mechanischem Federwerk, klingende Zigarettenspender mit eingebautem Musikwerk, mysteriöse Schreibautomaten und vieles mehr. Die Region Sainte-Croix beherbergt wahre Schätze der mechanischen Kunst.

Doch was ist eine Musikspieldose eigentlich?
Fragen wir Wikipedia: «Die Spieldose ist ein selbstspielendes mechanisches Musikinstrument. Daneben gibt es die Spieluhr mit mechanischem Uhrwerk und Uhrfeder, die eine Melodie spielt. Bei den Spieldosen unterscheidet man zwei Arten: Walzenspieldosen und Plattenspieldosen.»

Ok, Danke, Wikipedia.

Die Musikspieldose (französisch «boîte à musique») wurde in der Schweiz erfunden, und zwar vom Genfer Uhrmacher Anton Favre-Salomon im Jahr 1796. Obwohl Favres Erfindung der Musikspieldose überall gelobt wurde, gelang es ihm nicht, sie zu etablieren. Er gab seinen Beruf auf und starb im Jahr 1802 in ärmlichen Verhältnissen.

In den folgenden Jahrzehnten wurde sein Prinzip der Walzenspieldose weiterentwickelt. Im Jahr 1802 ersann Jean-Frédéric Leschot Fingerringe mit einem eingebautem Lamellenmusikwerk, basierend auf Favres Idee. Hersteller war allerdings nicht Leschot, sondern Isaac-Daniel Piguet, ein Uhrmacher aus dem Vallée de Joux. Ab 1813 produzierte man auch Musikwerke für Tabatièren (Tabakdosen) oder Schmuckdosen. In einem nächsten Schritt wurde Favres Prinzip auch auf die eigentliche Musikdose ohne weitere Funktion übertragen. Es entstand eine neue Art von Musikwerken, welche in Kamin- und Wanduhren eingebaut wurden, genannt “Cartel“. Im Jahr 1814 wird in Sainte-Croix die Firma Paillard gegründet. Die Spieldose in der Form, wie wir sie heute kennen, wurde ab 1815 hergestellt.

In den Zentren der Spieldosenindustrie - Genf und Sainte Croix - werden um 1813 ca. 3'000 Stück produziert. Das Wachstum dieser neuen Industrie ist erstaunlich. 1827 werden bereits mehr als 16'500 Spieldosen hergestellt. Um 1832 ist die Musikdosenindustrie fest iSainte-Croix etabliert. 17 Fabrikanten beschäftigten damals 360 Arbeiter. Daneben gab es rund neunzig Uhrmacherbetriebe.

Mitte des Jahrhunderts wuchs die Produktion von Musikdosen auf 35'000 Stück jährlich, wovon ein Grossteil ins Ausland exportiert wurde. Einzelne Fabrikanten waren sehr erfolgreich und wurden zu wichtigen Arbeitgebern der Region. Zunächst fertigte man die Automaten in dezentraler Heimarbeit. Mitte des 19. Jh. wurde diese Art der Produktion immer mehr durch kleinstädtische Manufakturen abgelöst.

Der Ruhm des Dorfes Sainte-Croix als Epizentrum der aufstrebenden Musikdosenindustrie erreichte im Jahr 1965 einen gewissen Charles Reuge, wohnhaft im Val-de-Travers, dem kältesten Schweizer Tal, genannt «Sibirien der Schweiz», in dem das Thermometer auch gerne mal auf -42 Grad hinunterklettert. Fasziniert entschloss er sich, nach Sainte-Croix zu ziehen, um die Firma Reuge zu gründen, die bis heute existiert.

Die Glanzzeit der Musikdosenindustrie waren die Jahre 1875 bis 1896. Ca. 30 Firmen waren in Sainte-Croix und Umgebung tätig. Bekannte Namen waren: Lassueur, Reuge, Thorens, Mermod, Paillard und Vidoudez in Sainte-Croix und Cennet in L’Auberson.

Bereits 1887 ging über ein Drittel des gesamten Spieldosen-Exports nur in die USA. Innerhalb von nur 11 Jahren - zwischen 1883 - 1894 - verdoppelte sich die Jahresproduktion von 100'000 auf sage und schreibe 200'000 Stück.

Doch das goldene Zeitalter der Musikspieldose neigte sich dem Ende zu. Die Musikspieldose verlor immer mehr an Popularität wegen verschiedenen neuen Erfindungen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Unterhaltungsindustrie revolutionierten:

  • Der Phonograph und später das Grammophon, Vorgänger des Plattenspielers.
  • Die Pianola, ein selbstspielendes Klavier mit auswechselbarer Walze, wie es zum Beispiel in Western-Filmen oft vorkommt. Während dem Abspielen der Musik konnte man die die Liedtexte mitsingen, was die Pianola zu einer Art Vorläufer von Karaoke machte.
  • Der Kinematograf, mit dem die Geschichte des Kinos ihren Anfang nahm.

Wer wollte da noch Musikspieldosen anhören, die immer nur die gleichen zwei, drei Lieder spielten?

Spieldosen wurden zu allerlei Zwecken umfunktioniert, zum Beispiel als Bahnhofsmünzautomaten oder Touristenshop-Souvenirs. Eine der Firmen aus der Pionierszeit im 19. Jahrhundert überlebte bis in die heutige Zeit: Die Firma Reuge aus Sainte-Croix. Sie stellt Musikdosen im Luxussegment her, von Liebhabern auf der ganzen Welt geschätzt.

Manchmal findet die eine oder andere davon ihren Weg in unser Arche Brockenhaus.


Alle drei Objekte produziert von Reuge

Und so bleibt Sainte-Croix bis heute die Metropole der Musikspieldosen.

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