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«Mit Farbe gegen eine manchmal düstere Welt»

Der bunte Bauwagen begrüsst Besucher:innen des Biohofs – ein Farbtupfer, der auffällt. Aber er ist nicht das einzige Kunstwerk von «Sprayer Stefan», der in der Küche des Arche Biohofs steht und das Mittagessen für seine Arbeitskolleginnen und -kollegen vorbereitet, während er seine eindrückliche Geschichte erzählt. 

Sein Talent fürs Zeichnen  zeigte sich bereits in der Schule als kleiner Bub. Erste Erfahrungen mit Sprayen auf Wände machte er mit einem Kollegen mit 15 Jahren in einem leerstehenden, alten Restaurant – nachdem sie von der Gemeinde die Einwilligung bekommen hatten, dort einen Jugendraum einzurichten. Das Resultat liess sich sehen und schnell sprach sich herum, wer der begabte Künstler war. So bekam er von der Schule seinen ersten «offiziellen» Graffiti-Auftrag zur Verschönerung einer grossen, kahlen Mauer. Es folgten weitere Aufträge für verschiedene Jugendtreffs – aber auch Private klopften bald bei ihm an. Sogar für die Polizei und die SBB durfte Stefan bereits die Spraydosen schütteln und Objekten ein neues, buntes Gesicht verleihen. Sein grösstes Kunstwerk bisher ist die Kirchenfassade der offenen Kirche in St. Gallen, die er 2016 zusammen mit zwei Künstler-Kollegen zu einem der Wahrzeichen der Stadt verwandelt hat.
 
 
Im Herbst 2019 wurde der Verkehrsgarten in Bülach saniert. Lernende der Swiss, des Flughafens, der Stadt Bülach sowie Armeeangehörige packten gemeinsam an, um diverse Arbeiten an Gebäuden, Markierungen und der Umgebung auszuführen. Im Rahmen dieser Aktion wurde auch Stefan angefragt, gemeinsam mit den Lernenden diverse Flächen an Gebäuden kreativ zu verzieren. Nebst seinen Aufträgen, die er meist allein ausführt, wurde Stefan bereits mehrmals angefragt, Workshops in Jugendtreffs oder der Jugendpsychiatrie Zürich durchzuführen. Die Jugendlichen mit psychischen Schwierigkeiten sollten im Rahmen ihrer Therapie von dieser Möglichkeit profitieren. Diese Aufgabe bezeichnet der Künstler als ziemliche Herausforderung, seien die jungen Menschen zum Teil doch sehr depressiv und daher nur schwer zu motivieren gewesen. Aufgrund seiner eigenen Geschichte und Erfahrung mit Aufenthalten in der Psychiatrie wegen Depressionen konnte er nachvollziehen, was in den Jugendlichen jeweils vorging. Gemäss Aussage seiner Mutter leidet Stefan an derselben psychischen Krankheit wie schon sein Grossvater.
 
Mit 18 erlitt Stefan eine Psychose und seit er 19-jährig ist, bezieht er eine IV-Rente und verbrachte wegen seiner Krankheit längere Zeit in verschiedenen Institutionen. Während dieser Zeit absolvierte er eine Lehre als Theater-Maler in der Stiftung «Märtplatz» in Freienstein, wo in elf Werkstätten und Ateliers junge Menschen mit psychischen und sozialen Schwierigkeiten eine Ausbildung im geschützten Rahmen erhalten mit dem Ziel, sie später in den ersten Arbeitsmarkt integrieren zu können. Während seiner Lehrzeit konnte Stefan im Opernhaus Zürich, in den Theatern Basel und Luzern im Rahmen von Praktika arbeiten. Nach Abschluss der Ausbildung bekam er vom Theater Basel eine befristete Stelle als Aushilfe. Vor etwa zehn Jahren fing er an, sporadisch im Bühnenbau zu arbeiten - meist im Hallenstadion Zürich. Die Arbeit im Event- und Bühnenbau lief parallel zu seiner Haupttätigkeit im Arche Biohof. Die beiden Aufgaben liessen sich gut kombinieren, da die Bühne meist abends oder an Wochenenden auf- und abgebaut werden musste. Seit Corona sind in diesem Bereich natürlich keine Aufträge mehr gekommen.
 
Unterstützungsleistung gibt Sicherheit.
Die Frage drängt sich auf, ob Stefan nicht in der Lage wäre, sein geschütztes Umfeld zu verlassen und sich ganz auf seine Aufgaben als Graffitikünstler, Theater-Maler und im Bühnenbau zu konzentrieren und sein Leben ohne Unterstützung zu bestreiten. Er winkt ab – nach Einschätzung seiner Psychiaterin würde ihn das Wegfallen der Sicherheit durch die IV ziemlich rasch aus der Bahn werfen. Die Unterstützung gibt ihm die Sicherheit, die er dringend braucht, um stabil zu sein. Durch den damit gewonnenen Halt hat er seit zehn Jahren keinen psychotischen Rückfall mehr erlitten und musste sich keiner stationären Behandlung mehr unterziehen. Würde er dem Druck der Existenzsicherung unterliegen, würden sich Depressionen und Psychose «zurückmelden» und ihn aus der Bahn werfen.
 
Wenn Stefan zurückblickt auf seine Karriere als Graffitikünstler, bezeichnet er sein Werk an der Kirchenfassade in St. Gallen als sein bedeutendstes – dies, obwohl er seit diesem Auftrag zahlreiche andere Projekte umgesetzt hat. Nicht nur Mauern hat er ein neues Gesicht verliehen, sondern auch T-Shirts, Kalender und – zeitgemäss – hat er auch Schutzmasken designt. Auf die Textilien sind vornehmlich Insekten gedruckt, im Speziellen ein Totenkopffalter – seinem Künstlernamen «Insect» gerecht werdend. Die Motivation zu sprayen, ist unterschiedlich. So kann sie politisch motiviert sein, wie zum Beispiel eines seiner letzten Bilder, auf dem ein Orang-Utan auf einem einsamen Baum zu sehen ist, um den herum die Erde in Brand steht – dies aufgrund des kürzlich beschlossenen Freihandelsabkommens. Oder er sprayt aus purer Freude und spontaner Lust, ein Bild zu erschaffen. Eins haben seine Bilder alle gemeinsam: Sie entstehen immer legal – sei es als Auftrag oder in einem Atelier wie der Roten Fabrik in Zürich.
 
Die nahe Zukunft bringt grosse Veränderung ins Leben von Stefan – so wird der kreative Künstler und Biohof-Mitarbeiter die Arche Zürich nach knapp eineinhalb Jahren in Richtung «Atelier vom Wolf in der Säule» verlassen – eine Tagesstätte für Menschen, die aufgrund einer psychischen Beeinträchtigung eine IV-Rente beziehen und nicht oder nur sehr begrenzt im zweiten Arbeitsmarkt tätig sein können. Ein Ort mit Raum für gestalterisches Tun, der regelmässig Ausstellungen mit den Werken der Künstler/-innen organisiert. Die Überbrückungszeit, bis sein Platz im Atelier frei ist, wird er in der «Stiftung St. Jakob» in Zürich mit dem Restaurieren von Stühlen verbringen. Beide Institutionen kennt er bereits von früher und freut sich auf die neuen Aufgaben. 
 
Trotz des tollen Teams und der schönen naturbezogenen Arbeit ist ihm die Routine auf dem Biohof  etwas langweilig geworden und so freut er sich auf die Tage, die er ausschliesslich mit Malen und Sprayen verbringen darf – dem, was er in seinem Leben am Allerliebsten macht – ohne Druck, davon leben zu müssen, sondern dafür leben zu dürfen.
 
(Artikel aus unserem «arche aktuell» 2021/2)