Was ist Selbstbestimmung und wo sind ihre Grenzen?
Selbstbestimmung wird von jeder Person anders interpretiert und bedeutet im Kern, bewusst und kontrolliert Entscheidungen basierend auf eigenen Werten und Überzeugungen zu treffen. In einem gemeinsamen Workshop haben Fachpersonen und Bewohner:innen der Arche Zürich ausgelotet, welche Möglichkeiten Menschen in einer betreuten Wohnform haben – und wo die Grenzen liegen.
Seit Anfang 2024 ist im Kanton Zürich ein Gesetz in Kraft, das Menschen mit Behinderung und besonderen Herausforderungen grössere Freiheiten bei der Wahl ihrer Wohn- und Betreuungsform gibt und sie dabei unterstützt, ein selbstbestimmtes Leben als Teil der Gesellschaft zu führen. Dieser Auftrag hat grossen Einfluss auf die Arche-Wohnformen «Betreutes Wohnen» und «Integrierendes Wohnen». Unabhängig davon wurde bereits vor zwei Jahren durch die Betriebsleitung mit «Betreuungsverständnis» ein Fokus bestimmt. Eine Arbeitsgruppe mit Personen der Betriebsleitung sowie Bewohner:innen aus den vier Wohnhäusern bearbeitet das Thema Selbstbestimmung seither regelmässig.
Anfang November fand ein erneuter Workshop mit verschiedenen Programmpunkten statt: Gruppenarbeiten, Präsentationen und als Einstieg eine Podiumsdiskussion. Die Runde wurde moderiert durch Martin Haug, Fachperson für Gleichstellung und Inklusion von Menschen mit Behinderung. Mit ihm diskutierten Bewohner:innen des Arche Wohnens, Teamer:innen beider Wohnangebote, Daniel Oberholzer, Professor an der FHNW und mit Martin Born ein Peer darüber, was für jeden einzelnen Selbstbestimmung bedeutet und wie sie grösstmöglich umgesetzt werden kann.
Das individuelle Empfinden, was Selbstbestimmung ist
Wer selbstbestimmt lebt, kann Entscheidungen selbst treffen. In dieser Aussage waren sich alle im Saal einig. Ebenso darin, dass jeder Selbstbestimmung und Autonomie durch die Gesellschaft Grenzen gesetzt werden und wir alle in vielen Bereichen unseres Lebens durch gegebene Rahmenbedingungen fremdbestimmt sind. Dies können Gesundheit, Familie, Wohnsituation aber auch das berufliche Umfeld sein; so führte Daniel Oberholzer beispielsweise seine Enkeltochter oder die Tiere auf seinem Bauernhof auf, die grosse Teile seines Alltags (fremd)bestimmen. Für Bea Rüegg, Sozialarbeiterin der Arche, hat Selbstbestimmung nebst einem inneren auch einen äusseren, politischen Aspekt: «Ich darf in dieser Gesellschaft mitreden und mitentscheiden, ich bin ein Teil des Ganzen.» Für Remo* ist es wichtig, dass er trotz Abhängigkeit vom Sozialamt und seiner Wohnsituation im Betreuten Wohnen vieles im Kleinen selbst bestimmen kann: «Wenn ich möchte, kann ich eine eigene Wohnung suchen». Für Peter* ist gegenseitiges Verständnis zentral, damit er sich wohlfühlt und richtige Entscheidungen treffen kann.
Aus der Sicht von Radiomacher und Peer Martin Born ist: «Selbstbestimmung aufwändig. Sie bedeutet aber auch, dass ich bewusst Entscheidungen treffen darf, die mir nicht guttun.» «Damit die Bewohner:innen eigenständig entscheiden können, stellen wir ihnen möglichst viele Informationen als Grundlage zur Verfügung» erklärte Marco Grubenmann, Team-Mitglied Betreuung, Wohnhaus Hohlstrasse, am Beispiel von übermässigem Cola-Genuss. «Wir verbieten selbstverständlich niemandem, zu viel davon zu trinken, aber wir informieren über die Folgen, die der Konsum in diesem Mass haben kann. Die Entscheidung muss die betreffende Person selbst treffen.
Regeln und Hierarchien trotz Selbstbestimmung
«Als Institution im Umgang mit psychisch erkrankten und suchtbetroffenen Menschen haben wir eine Verantwortung. Unterstützung ist dort notwendig, wo jemand nicht in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen und dadurch sich oder andere gefährdet», erklärte Bea Rüegg. Teamer:innen treffen für die Bewohner:innen Entscheide, die akzeptiert werden müssten. Das Ziel des Arche Wohnens ist es, Menschen auf dem Weg (zurück) in die Autonomie zu begleiten. Sie darin zu bestärken, Verantwortung für sich zu übernehmen und sie zu befähigen mit den nötigen Kompetenzen an den Prozessen des Alltags mitzubestimmen.
In die angeregte Diskussion, die Moderator Haug schmunzelnd als «Podiumsdiskussion ohne Podium» bezeichnete, brachten sich nicht nur die Gäste der Gesprächsrunde ein. Auch die Workshop-Teilnehmenden stellten Fragen und kommentierten das Gesagte. So entstand ein reger Austausch – ein Miteinander zu einem Thema, das jede:n Einzelne:n betrifft. «Wer bestimmt, was ein Fehler ist? Was ist das Gegenteil von Selbstbestimmung? Wer möchte eine totale Autonomie?» waren beispielsweise Fragen, die diskutiert wurden. Am Ende dieses ersten Teils stand die Definition, dass die ideale Beziehung zwischen Klient:in und Teamer:in auf Zuhören und Empathie und den nötigen Freiräumen gründet; und jeder Mensch das Recht hat, seine Rolle(n) zu definieren, wem er wie im Leben begegnen möchte.
Ein Workshop mit wichtigen Erkenntnissen
Danach gönnten sich alle eine wohlverdiente Pause, bevor es mit Gruppenarbeiten weiterging. Zur Debatte standen dazu mit «Umgang mit Alkohol an Events», «Mitbestimmung bei der Gestaltung der Hausordnung und -organisation» sowie «Mitbestimmung bei der Taschengeldverwaltung» drei wichtige Themen aus dem Alltag der verschiedenen Wohnhäuser. Am Ende entstand ein gemeinsames Bild, eine Wort-Wolke, mit über 70 Begriffen; im Zentrum dieser Arbeit stehen die Worte «Reflexion, Offenheit, Engagement», sinnbildlich für das Miteinander, wie es in der gesamten Institution grossgeschrieben wird.
Zum Abschluss eines erkenntnisreichen, inspirierenden und auch anstrengenden Nachmittags wurden alle Teilnehmenden mit einem Apéro riche verwöhnt. Dass die Arche Zürich auf ihrem Weg vorbildlich unterwegs ist, wurde von Moderator Martin Haug, mehrmals betont; und im Verlaufe des Nachmittags von einigen Bewohner:innen in Voten und im direkten Gespräch bestätigt. Trotzdem ist es ein fortlaufender Prozess, bis alle Ziele umgesetzt sind und möglichst viel Selbstbestimmung in allen Bereichen erreicht wird. Das Arche Wohnen bleibt sicher dran!