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Süchtig – und selbst schuld?

Wer süchtig ist, muss sich doch einfach nur etwas zusammenreissen und sich Mühe geben, alles nur eine Frage des Willens! Warum diese leider noch immer weit verbreitete Meinung falsch ist, zeigt das Gespräch mit Felix Fleischli, Betriebsleiter der Arche Therapie Bülach. 

Felix-Fleischli-Porträt

Tatsächlich könnte man dieser provokanten Äusserung aus Sicht des «gesunden Menschenverstandes» beipflichten. Allerdings sind die Mechanismen einer Suchterkrankung, und was sie im menschlichen Gehirn und Körper anrichten, viel komplexer als einfach eine Sache des guten Willens. Süchtige sind sich bewusst, dass sie sich mit dem Konsum schädlicher Substanzen erheblichen Schaden zufügen, es ist ihnen keineswegs gleichgültig. Ihre Sucht setzt sie jedoch ständigem Zugzwang und damit Stress aus. Wer darunter leidet, dessen Gehirn hat sich verändert. Sein Belohnungssystem wurde zweckentfremdet: Es hat die Sucht gelernt. 

Felix Fleischli erklärt die Krankheit anhand des Beispiels einer Festplatte oder einer CD «Sie ist fest im Hirn verbaut und lässt sich das Leben lang nicht entfernen. Sie ist bespielt mit dem Zwang, Drogen, Alkohol oder etwas anderes zu konsumieren. Zwar lässt sich der Pausenknopf drücken, aber sie lässt sich nie komplett abschalten. Ein:e Süchtige:r ist ab einem gewissen Schweregrad ein Leben lang ausgeliefert.» Natürlich gelinge es vielen, langfristig «auf Pause» zu drücken, manchen sogar über Jahre hinweg, andere erlebten immer wieder Rückschläge oder könnten das Abspielen gar nie stoppen. «Das ist bildlich dargestellt, wie Sucht im Hirn funktioniert.» Der Zeitpunkt werde bei fast jeder Problematik erreicht, wo sie das gesamte Leben dominiere. Sämtliche Gedanken und Wahrnehmungen drehten sich nur noch darum. Gegenüber Familie und Freunden stellten sich krasse Verhaltensänderungen wie illoyales Verhalten, lügen und stehlen ein. «Es endet in der klassischen ‹3-V-Strategie›: Vermeidung, Verdrängung und Verleugnung». 

Eine Suchterkrankung lässt sich nicht besiegen, höchstens stilllegen 
Ein Wendepunkt in diesem Lebensentwurf ist die Erkenntnis der:des Erkrankten, dass sie:er sich mit dieser Strategie selbst hintergeht und dieser Weg nicht weiterführt, sondern je länger, je mehr zur Ausgrenzung. Aus Sicht der behandelten Person ist ein idealer Punkt für den Ausstieg, wenn zu dieser Erkenntnis noch ein Notstand sozialer oder wirtschaftlicher Art hinzukommt. Sucht frisst sich in ihrem Verlauf nicht nur ins Hirn, sie richtet mit der Zeit auch beachtliche Schäden im Körper an. Das Trügerische: «Am Anfang hat man das Gefühl, die Substanz würde Kraft verleihen – die Zigarette gibt einen Nikotinschub oder bringt Entspannung und Wohlbefinden, ein Gewinn am Automaten Euphorie oder je nach Droge fühlt man sich wach, kräftig, glücklich». Allerdings folgt beim Konsum von Alkohol, Tabak oder stoffgebundenen Substanzen unweigerlich der körperliche Zerfall.  

Strategie und Ersatzsucht 
Eine mögliche Strategie, um aus einer Krankheit zu kommen, kann eine Suchtverlagerung sein. Diesen Weg würde von dem meisten gewählt, erklärt Fleischli: «Dies kann einerseits eine Substitution mit einem Medikament sein, beispielsweise mit Diaphin (künstlich hergestelltes, sauberes Heroin), Methadon oder ebenfalls nicht unüblich, auf Sport. Der Ersatz muss sehr dominant sein und im Hirn den Platz der Sucht einnehmen».  

Begibt sich jemand in eine Entzugsklinik, ist dies der erste Schritt, den Druck aus dem Frontallappen in andere Hirnregionen zu verschieben. «Ist diese erste, sehr schwierige Phase überstanden, kann sich der:die Patient:in nur noch selbst schlagen und wieder in alte Muster zurückfallen».  

Die Geschichten hinter der Sucht sind vielfältig 
Seit einiger Zeit wird Sucht als eine psychische Erkrankung anerkannt, was für die Betroffenen sehr bedeutend ist, ermöglicht es ihnen einerseits doch den Zugang zu IV-Beiträgen und andererseits grenzt diese Terminologie die Menschen nicht mehr kategorisch aus als «selbst schuld» an ihrem Zustand. Mit dieser Anerkennung wird den Süchtigen zugestanden, dass sie unter einem Zwang leiden und nicht einfach aufhören können und aufgrund ihrer Erkrankung nicht vollends oder reduziert leistungs- und arbeitsfähig sind. Eine suchtkranke Person kann zusätzlich an einer sogenannten komorbiden Begleitstörungen leiden. Die Krankheitsbilder reichen von schizophrenen Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen bis hin zu Depressionen, Angst oder soziophobischen Verhaltensstörungen.   

Die Ursachen, warum jemand in eine Sucht gerät, sind vielfältig. Traumata, Schläge, Missbrauch, falsche Entscheidungen, falsche Freunde – oder von allem etwas. Ausserdem sind nicht alle Menschen gleich anfällig, in eine schwerwiegende Abhängigkeitsspirale zu geraten. Es stellt sich zudem die Frage, wann eine Sucht als solche taxiert wird.  

Gute Sucht, schlechte Sucht? 
Nicht jede Sucht wird von der Gesellschaft gleich bewertet. Arbeitet jemand beispielsweise sehr viel, wird das als positive Eigenschaft konotiert; selbst, wenn sie:er dadurch droht, ein Burnout oder einen Herzinfarkt zu erleiden. Die Frage, welche Auswirkung die Suchterkrankung von Menschen oder Gruppen auf die gesellschaftlichen Werte und Normen hat und wie fest das eigene Sicherheitsempfinden dadurch tangiert wird, spielt in der Beurteilung und Wahrnehmung ebenfalls eine zentrale Rolle.  

Die Grenze zwischen Genuss und Sucht ist ein schmaler Grat; wo ist die Grenze zwischen «brauchen» und «wünschen»? Die Definition ist fliessend und wird oft nach Gutdünken oder (Eigen-)Bedarf ausgelegt. Die Gesellschaft braucht mehr Toleranz gegenüber anderen Lebensentwürfen und es und weniger Doppelmoral gegenüber suchtkranken Menschen.  

Was-ist-Sucht